Wie jedes Mal, wenn zum Kulturtag eingeladen wurde, kamen auch dieses Mal die etwa 25 TeilnehmerInnen nicht ausschließlich aus den Gäugemeinden.
Vielmehr besteht da durchaus überregionales Interesse.
Nach dem gemeinsamen Mittagessen in einem Stuttgarter Restaurant konnte man sich, ausreichend gestärkt, den kulturellen Genüssen widmen: Um 13 Uhr gab es eine Führung im Alten Schloss, Thema: „Prunk, Pracht und Politik – die Romanows und Württemberg“. Nach der Pause – Stuttgart zeigte sich nicht im Novembergrau, sondern es schien die Sonne, so dass es kein Problem war, durch die Stadt zu bummeln, ging es weiter mit der U-Bahn zur St.-Nikolaus-Kathedrale. Vom Datum her ein etwas verfrühter Namenstagsbesuch in der dem Heiligen Nikolaus von Myra gewidmeten Kirche. „Hausherr“ Erzpriester Ilya Limberger hatte für Sitzgelegenheiten im Kirchenraum gesorgt, denn in den russisch-orthodoxen Gottesdiensten, die mehrere Stunden dauern können, wird gestanden, umhergegangen, aber nicht gesessen. Die Besucher wussten das Sitzenkönnen zu schätzen, denn die für eine Stunde angesetzte „Führung“ dauerte fast eineinhalb Stunden und wenn nicht die Besorgnis bestanden hätte, nicht mehr rechtzeitig zum mittwochabendlichen Gottesdienst im Heimatort anzukommen, wer weiß…denn Fragen hatten die Besucher viele.
Der Erzpriester stand während seines Vortrags vor der mit Ikonen geschmückten Wand, die das Kirchenschiff in einer orthodoxen Kirche vom Altarraum, dem Allerheiligsten trennt. Die Besucher hatten die ganze Zeit über einen Blick darauf und der Chronist, der die Kirche schon einmal besichtigt hatte, fand wieder bestätigt, was I. Limberger, auch damals Kirchenführer, über die Ikonen gesagt hatte: Gottes Licht wirft keine Schatten – daher gibt es auf den Bildern keine Schattierungen von Hell zu Dunkel und umgekehrt, was die Eigenart dieser besonderen Malereikunst ausmacht. Die Besucher an diesem Nachmittag ließen bezüglich des Kirchengebäudes und seiner Ausstattung „nur“ die Optik auf sich wirken. Vom „Hausherrn“ befragt, worüber sie gern Informationen hätten, setzten sie andere Schwerpunkte:
Es ging in die Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche: Im 10. Jh. wurde sie „geboren“ (988), als der slawische Fürst Wladimir, dessen Reich an das byzantinische grenzte, sich der von Konstantinopel ausgehenden Mission nicht widersetzte, sondern den orthodoxen Glauben annahm. Es bedurfte keines Martin Luther für eine Bibelübersetzung in die Landessprache. Vielmehr wurden Bibel und Liturgie vor der Missionierung ins Slawische übersetzt wie auch philosophische und wissenschaftliche Texte. Die Entscheidung des Fürsten, den „neuen“ Glauben anzunehmen, galt in einer Art freiwilligem Zwang auch für sein Volk. Das bekam von den Griechen nicht nur das Christentum, sondern auch deren Kultur, übersetzt ins Slawische, geliefert, so dass sich bei den „Bekehrten“ eine neue Sichtweise auf Mensch, Natur und Gott breit machte mit Auswirkungen auch auf Baukunst und Malerei. Während seine Vorfahren noch große Raubzüge unternommen hatten, bei denen man nicht zimperlich im Umgang mit anderen war, verbot der zum Christen gewordene Wladimir die Todesstrafe. Mit der Folge, dass die Bischöfe (!) deren Wiedereinführung verlangten, denn ohne muss es drunter und drüber gegangen sein…Die Liaison mit Byzanz bezüglich des gemeinsamen Glaubens beeinflusste nicht nur das kulturelle Leben bei den Slawen, sondern bewirkte bei ihnen auch wirtschaftliche Prosperität.
Im Jahr 1589 verlor Konstantinopel seine Souveränität. Das führte zur Loslösung der russisch-orthodoxen Kirche von der griechisch-orthodoxen und damit zur Eigenständigkeit. Schon im 15. Jh. hatte es Diskussionen über Glauben und Religion zwischen Lutheranern und Orthodoxen gegeben. Peter der Große, der eine Zeit lang in den Niederlanden gelebt hatte, „krempelte alles um“, wie der Erzpriester es formulierte, und formte die Kirche im Jahr 1713 nach dem Muster der lutherischen Kirche. Es gab keine Patriarchen mehr, sondern in den folgenden rund 200 Jahren wurde ein Minister als Oberhaupt und damit als Kontrollorgan seitens des Staates eingesetzt. Das endete mit der russischen Revolution im Jahr 1917. Seither gab es wieder einen Patriarchen. Allerdings war in der dann folgenden Zeit des Kommunismus kirchliches Leben nicht gut gelitten. Es gab vom Staat Unterdrückung und viele, die für ihren Glauben mit dem Leben bezahlen mussten.
In Deutschland gibt es heute zwei Bischöfe, die dem Patriarchen in Russland unterstellt sind. An der Universität in München kann man russisch-orthodoxe Theologie studieren. Durch die Spätaussiedler, von denen sich ca. 25 % zum russisch-orthodoxen Glauben bekennen, ist u. a. im Großraum Stuttgart mit 1.500 bis 2.000 Mitgliedern wieder ein aktives Kirchenleben möglich. In St. Nikolaus musste daher eine Empore, von der aus der Chor singt, in die Kirche eingebaut werden.
Viele Fragen eines sehr aufmerksamen und interessierten Publikums schlossen sich an den Vortrag an und I. Limberger beantwortete sie gern. Bis einschließlich des Priesteramts leben die Geistlichen nicht im Zölibat. Bischöfe stammen heute aus dem Mönchstum, das wieder aufgelebt ist, nachdem während des Ersten und Zweiten Weltkriegs alle Klöster geschlossen worden waren. Heute sind es wieder 600, die ein reges christliches Leben pflegen. Es gibt sehr vielen junge Mönche. Frauen dürfen nicht zum Priester geweiht werden. Sie können aber alle nicht geistlichen Tätigkeiten in der Kirche ausüben. Marienverehrung wie überhaupt die Heiligenanbetung sind fester Bestandteil der Liturgie. Nachdem kirchliches Leben im 20. Jh. wieder möglich war, sind viele neue Heilige berufen worden. Die „Neumärthyrer“ sind meist die kirchlichen Opfer von Gewalt in der kommunistischen Zeit. Sonntäglich gibt es Gottesdienst mit einer eucharistischen Feier mit Wandlung entsprechend einer schon im 4. Jh. niedergeschriebenen Liturgie. In der österlichen Fastenzeit ist diese länger mit dem Schwerpunkt auf dem Geschehen von Jesus` Tod und Auferstehung. Die Ikonenwand trennt, wie damals im Tempel der Vorhang, das Allerheiligste vom Weltlichen. Wie im Alten Testament ist es dem Priester vorbehalten, es zu betreten. Es ist das Abbild des Paradieses, das durch Jesus` Opfer den Menschen zwar offen ist, aber, so der Priester mit leichtem Schmunzeln, nur ein kleines bisschen, was durch die Tür in der Ikonenwand symbolisiert wird. Nicht jeder darf dort jetzt schon hinein. Es muss menschenleer gewesen sein, bevor Jesus nach seinem Tod dorthin ging. „Einen Zweiten gibt es da auch“, sagte jemand aus dem Publikum, der in der Sonntagsschule sehr aufmerksam gewesen sein muss, „das war der Schächer am Kreuz.“ Dadurch, dass der Altarraum völlig abgeteilt ist, wird in der Orthodoxie die Kontinuität zum Alten Testament gewahrt. Das ist auch zu erspüren in der Bilderwelt dieser Glaubensrichtung, beendete I. Limberger dieses „Kapitel“.
Von Interesse war besonders auch die Liturgie. Neben dem eucharistischen Teil wird das Evangelium verlesen. Es gibt eine Predigt, zu 80 % in Russisch, sonst in Deutsch, und bei Kindern und Jugendlichen, die hier aufgewachsen sind, wird eh nur noch deutsch gesprochen. Daher sind inzwischen fast alle russischen Texte übersetzt. Es gibt viel Kinder- und Jugendarbeit. Da es nie so etwas wie den Reichsdeputationshauptschluss gegeben hat, gehören alle Kirchen, Klöster etc. dem russischen Staat und sind der Kirche nur zur Nutzung überlassen. Ein rechtlicher Rahmen fehlt. Die Diözese in Deutschland ist organisiert als Körperschaft des öffentlichen Rechts, die ist auch als Eigentümerin der Stuttgarter Kirche im Grundbuch eingetragen. Kirchensteuern werden nicht erhoben. Das Sakrament der Beichte wird sehr gepflegt. Sie findet in einer Art persönlichem Gespräch zwischen Seelsorger und Gläubigem statt. Letzterer erhält den Rat, zukünftig mit seiner Seele pfleglicher umzugehen. Es wird für ihn gebetet, damit er den Weg zurück zu Christus findet. Ob Geschiedene wieder neu kirchlich heiraten dürfen, darüber entscheidet ein besonderes geistliches Gericht. Im Gottesdienst werden seitens des Priesters mehrfach die Gewänder gewechselt. Große Mengen Weihrauchs gehören auch dazu. Und noch eine Besonderheit, sicher hätte es noch viele mehr gegeben, aber, s.o., allmählich drängte die Zeit. Zum Gottesdienst gehören Bilder, das gesprochene Wort und viel Gesang, aber keine Instrumentalmusik.
Eilig ging es nun zurück mit U- und S-Bahn. Im Bahnhof Stadtmitte trennte sich die Gruppe aus dem Gäu von denen, die aus anderer Richtung gekommen waren. Rushhour, zum Umfallen in der Bahn wäre kein Platz gewesen. „Das verpassen wir jetzt jeden Werktag.“, meinte einer aus der Seniorenrunde. Er klang dabei nicht sehr traurig.
Herzlichen Dank an die Organisatorin für einen wieder einmal gelungenen, lehrreichen Tag. Ohne Langeweile, trotz oder wegen viel Kultur, da suche sich jeder das Passende aus.