„Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön dem, welchem alle Dinge zu Dienst und Willen stehn! (Neuap. Gesangbuch Nr. 257, Text Paul Gerhardt) Dieser schon vor Jahrhunderten, in damals schlimmen Zeiten mit Krieg und großer Not formulierte Text des von der Gemeinde gesungenen Eingangslieds vermochte das Empfinden der Gottesdienstbesucher auf den gemeinsamen „Nenner“ zu bringen: Ohne Gottes Hilfe und Segen wäre es nicht möglich gewesen, an diesem Sonntag in Tübingen ein Jubiläum zu feiern: 150 Jahre Neuapostolische Kirche.
Bischof Georg Kaltschmitt leitete den Gottesdienst, zu dem außer den Tübingern Glaubensgeschwister und Gäste aus den Gemeinden Pfrondorf, Ammerbuch-Pfäffingen und Rottenburg gekommen waren. Mitglieder der vier Kirchengemeinden hatten seit Jahresbeginn gemeinsam geplant, organisiert und am Vortag alles in der und um die Kirche herum aufgebaut, was nötig war, damit es diesen Tag der offenen Kirche mit seinen vielfältigen Angeboten geben konnte. Dabei „gecoacht“ , besser beschrieben, liebevoll begleitet und unterstützt, vom stellvertretenden Leiter des Bezirks Tübingen, Werner Lampprecht. Das erstreckte sich auf viele Besprechungen bis hin zum eigenhändigen Anbringen des Festtagsbanners außen am Kirchengebäude am Samstag zuvor, wobei es dabei noch tatkräftige Unterstützung des Bezirksoberhaupts gab (siehe Foto).
„Nur 150 Jahre, was sind die schon in Relation zu 2000 Jahren Christentum. Trotzdem sei es gestattet, dieses ´bescheidene´ Jubiläum im großen christlichen Kontext zu würdigen. Zumal eine neu apostolische Kirche per se nicht alt sein kann“, so ging G. Kaltschmitt zu Beginn auf den Anlass des Tages der offenen Kirche ein. Es folgte ein kurzer historischen Abriss der Anfänge neuapostolischen Kirchenlebens vor 150 Jahren bis in die Gegenwart. Und, speziell zur Gemeinde Tübingen: „Sie feiert in diesem Jahr ihr 105-jähriges Bestehen und das 80-jährige ihres Kirchengebäudes.“
Der gemischte Chor, der für die musikalische Umrahmung des Gottesdienstessorgte, vor dessen Beginn eine Instrumentalgruppe gespielt hatte, wusste musikalisch auszudrücken, was Gott für die Vergangenheit geschuldet ist: „Danket dem Herrn;…“ (Neuap. Chorliederbuch Nr. 234, Text Ps 118,1) erklang es, bevor G. Kaltschmitt auf das zu Beginn des Gottesdienstes verlesene Bibelwort einging:
„So lasst uns nun durch ihn Gott allezeit das Lobopfer darbringen, das ist die Frucht der Lippen, die seinen Namen bekennen.“ (Hebr 13,15)
„Eine antiquierte Formulierung an dieser Stelle des Briefs an die Hebräer. Es geht darum, Gott zu bekennen. Den eigenen Glauben. Das verknüpft sich mit dem Motto des Jubiläumsjahrs `Ein Glaube – ein Ziel`. In Talkshows sind Menschen bereit, intimste Dinge über sich auszubreiten, aber Religiosität und Glaube gehören zum nahezu best gehüteten Privatgeheimnis in unserer Gesellschaft.“ Durch „ihn“, den Gottessohn, bekennen drückt aus, dass er der Grund dafür ist, zu bekennen. Man muss dazu allezeit, von morgens bis abends, eine bestimmte Grundhaltung einnehmen. Die Glaubenspioniere vor hundertfünfzig Jahren, die über ihren Glauben gesprochen haben, haben diese innere Einstellung aber nicht nur durch Worte, sondern noch viel klarer durch ihr Verhalten ausgedrückt. Es sollte deutlich werden: Er, Jesus, ist das Wesentliche, weil von ihm das Heil für den Menschen kommt.
Der Bischof zitierte noch anderes aus dem Brief an die Hebräer: “Bleibt fest in der brüderlichen Liebe.“ (Hebr 13,1) Liebe, das Schönste, was der Mensch schenken kann. Dazu gibt es das „Doppelgebot“ Jesus`, Gott über alles und seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, das sich gegen Egoismus und Rücksichtslosigkeit wendet.
Im folgenden Vers des Hebräerbriefs (Hebr 13,2) geht es darum, „gastfrei“ zu sein. Den Bedürfnissen seiner Mitmenschen entgegenzukommen. Das gilt für das Natürliche wie für das Geistige. Das Missionswerk der Neuapostolischen Kirche nimmt sich mit materiellen Zuwendungen der menschlichen Not weltweit an. Im Geistigen geht es darum, Einsamkeit abzuhelfen. Sich um die kümmern, die sich unverstanden fühlen. Traurigkeit auf Grund von Zerwürfnissen zu lindern. „Und, das Schönste daran ist, dass die Freude darüber, anderen helfen zu können, ins eigene Herz zurückkehrt.“
Im 3. Vers des 13. Kapitels des Hebräerbriefs heißt es: „Denkt an die Gefangenen, als wärt ihr Mitgefangene,…“ . Das bedeutet, Mitgefühl zu haben. Jesus verhinderte die Steinigung einer Ehebrecherin, indem er die Vollstrecker der damals geltenden Gesetze fragte, ob sie alles richtig gemacht hätten und ohne Sünde seien. Sie ließen daraufhin von ihrem Vorhaben ab. Wir wollen keine „Formchristen“ sein. Es geht nicht darum, anderen etwas zeigen zu wollen. Vielmehr muss spürbar sein, dass etwas von Herzen kommt.
Jesus seinerzeit hat zugesagt. “Wer mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem Vater.“ Diese damalige Aufforderung des Gottessohns reicht weit in die Zukunft und das, was nach dem Irdischen kommt. „Ich denke, wir gehen gern so weiter in diesem Jubiläumsjahr als dem des Bekenntnisses.“
Bezirksvorsteher Klaus von Bank ging in seinem Beitrag noch einmal auf die „150 Jahre“ ein, die zwar die Dauer des menschlichen Lebens übersteigen, aber dennoch für eine Kirche ein kleiner Zeitrahmen sind. Es ist nicht zwingend, dass „je älter, desto besser“ bedeutet. Vielmehr können, zum Beispiel, durchaus gerade junge Unternehmen florieren. Im Alten Testament galten Moses und die Propheten. Dann sandte Gott seinen Sohn und es hieß von den Menschen damals, Abraham ist unser Vater. Wir haben Moses und die Propheten. Das zeitgemäße Erscheinen Jesus` als Gottessohn später wurde nicht erkannt und angenommen. Die Gründungsväter vor 150 Jahren wollten nicht am Alten festhalten. Wesentlicher Bestandteil ihres Glaubens war, Apostel und den Heiligen Geist haben zu wollen. Wir wollen heute als neuapostolische Christen nicht stehen bleiben. Vielmehr bereit sein, das zeitgemäße göttliche Wort anzunehmen. Gott und sein Sohn sollen uns begleiten. Alles Menschliche ist vergänglich. Aber die Wiederkunft Christi und seine Herrlichkeit bleiben das Größte.
Das griff G. Kaltschmitt vor der Feier des heiligen Abendmahls noch einmal auf: „Gott ist zeitlos. Von Ewigkeit zu Ewigkeit, menschlich nicht vorstellbar. Was er gibt, das ist konstant wertvoll.“
Zum Gottesdienst in Tübingen waren auch dessen Oberbürgermeister Boris Palmer sowie eine Gemeinderätin im Ruhestand und eine aktive gekommen. Georg Kaltschmitt bat das Stadtoberhaupt nicht vergeblich um ein Grußwort, das diesem locker, leicht und launig von den Lippen kam. (Allerdings hatte er sich, äußerst umsichtig, vorher vergewissert, dass neuapostolische Christen zum Lachen nicht in den Keller gehen.) Der Oberbürgermeister gratulierte im Namen der bürgerlichen der kirchlichen Gemeinde zum Jubiläum. Sein Kommen an diesem Tag sei eine Wiedergutmachung dafür, dass er sich beim 100-Jährigen (der Kirchengemeinde Tübingen) im Jahr 2008 habe vertreten lassen. Und er hoffe, dass man ihm dafür jetzt Absolution erteile.
Ohne Religion sei die politische Gemeinde Tübingen nicht vorstellbar. Auf die Historie der Neuapostolischen Kirche eingehend, die 1863 ihren Ursprung in einer Gemeinde in Hamburg hatte, sagte B. Palmer, sie sei damit „Hanseat“ wie der unlängst verstorbene Professor Walter Jens, der in Tübingen gewirkt und gelehrt hat. Und von dem das Zitat stammt, bezogen auch oder gerade auf den Tübinger Professor Hans Küng: „Wir sind uns einig, dass wir uns über alles streiten können.“ Diese „Concordia Discors“, die Freiheit, die in der Vielfalt liegt, sei ein besonderes Geschenk für Tübingen.
Was Boris Palmer so besonders an der Neuapostolischen Kirche gefällt, nun, da gibt es einiges. Er hatte sich – wozu gibt es das Internet – im Vorfeld mit dem Thema befasst: Dass weder die Apostel noch die Bischöfe unfehlbar sind. Dass die Neuapostolische Kirche offen mit ihrer Historie umgeht und Divergenzen, unterschiedliche Lehrmeinungen, die es in der Vergangenheit gab, eine nicht eingetretene Verheißung aus den 1950er Jahren nicht verschweigt. „Damit gehen Sie offen um.“, stellte der Bürgermeister fest. „Wir Menschen können eben nicht unfehlbar sein.“
Und, speziell auf die neuapostolische Kirchengemeinde Tübingen eingehend: Es habe ihn beeindruckt, wie und wie viele Kinder an der Feier des heiligen Abendmahls teilnahmen. (Die Kinder hatten während des Gottesdienstes Vorsonntags- bzw. Sonntagsschule und kamen zur Feier des heiligen Abendmahls ins Kirchenschiff.) Dies zeuge von einer lebendigen Gemeinde wie auch das „kraftvolle Amen“ und das eindrückliche gemeinsam gesprochene Gebet, was er so wie im vorhergehenden Gottesdienst noch in keiner anderen Kirchengemeinde erlebt habe. Dass es Radparkplätze auf dem Kirchengrundstück gibt (Konsequent als „grüner“ Oberbürgermeister war B. Palmer mit dem Fahrrad zum Gottesdienst gekommen.), freute ihn ganz besonders. Die im Bauhausstil errichtete Kirche sei ein Schmuckstück in Tübingen und seiner Meinung nach die schönste dort im 20. Jh. gebaute. Nun ja, und ein weltliches Amt, zum Beispiel sein derzeitiges, könne enden. Dann gebe es vielleicht die Möglichkeit , in der Neuapostolischen Kirche Bischof zu werden, darauf anspielend, dass Georg Kaltschmitt vor seiner Berufung zum Bischof in Tübingen im Baurechtsamt der Stadt tätig gewesen war.
„Ihre Lebendigkeit und Ihre Kraft mögen Ihnen erhalten bleiben!“, lautete der abschließende Wunsch des Stadtoberhaupts, das für seine wohlmeinenden Worte mit kräftigem Applaus belohnt wurde.
Im Anschluss verlas G. Kaltschmitt noch ein Schreiben mit einem Grußwort von Pfarrer Dr. Alois Krist, Vorsitzender der AcK in Tübingen, der durch eigene Gottesdienste am Sonntagmorgen am Kommen gehindert war.
Anschließend konnte sich ausreichend mit Maultaschen und Kartoffelsalat gestärkt werden, und zwar drinnen wie auch draußen im Kirchgarten. Das Wetter – optimal. Nicht zu heiß, nicht zu kalt und keine Nässe von oben. Wer einfach nur schwätzen wollte, blieb gleich bei Kaffee und Kuchen hocken. Kreative BackkünstlerInnen hatten ein vielseitiges Kuchenbuffet gezaubert.
Zwei Kirchenführungen gab es im Lauf des Nachmittags, die auf reges Interesse stießen. Ein Preisrätsel konnte gelöst werden. Wer vor Ort googeln konnte, war eindeutig im Vorteil bei mancher exotischen Frage. Zu gewinnen waren spaßige Kleinigkeiten und als Hauptgewinn eine Ballonfahrt, auf die sich eine glückliche Gewinnerin freuen kann. Walter Huber, Gemeindevorsteher von Pfrondorf, hatte sich die kniffligen Fragen ausgedacht und moderierte die Preisvergabe. Jugendliche „seiner“ Gemeinde hatten eine Cocktailbar im Kirchgarten organisiert und bewirteten sie, deren Erlös dem Missionswerk zugunsten der Flutopferhilfe zugute kommen soll. Ausstellungen an einzelnen Tischen gaben einen Einblick in kirchliches Leben zu verschiedenen Zeiten und Aktivitäten aller von Jung bis Alt, von früher bis heute. Wobei festzustellen war, dass „Alt“ nicht mit Trägheit und Langeweile gleichzusetzen ist. Der Tisch der Senioren zeigte Fotos vom fröhlichen Miteinander der nicht mehr ganz so Jungen.
Ein Highlight am Nachmittag: Der Vortrag „Rückblick ins Jahr 1863“ vom Bezirksevangelisten im Ruhestand, wenn man das so nennen will, Manfred Bayer. In Wort und Bild wurden in 50-Jahres-Schritten die vergangenen 150 Jahre Neuapostolische Kirche präsentiert, im Großen wie auch im Besonderen, was die vier „Tübinger Gemeinden“ anbetrifft. Erst oder schon? 1953 wurde der Bezirk Tübingen gegründet, noch ein Jubiläum im Jahr 2013. Und dort mit seinem Vortrag angekommen, erwähnte M. Bayer den in diesem Jahr erschienenen ersten Katechismus der Neuapostolischen Kirche, womit, so der Vortragende, die Zukunft ein Bordbuch bekommen habe. Er fasste abschließend zusammen: „105 Jahre Tübingen, 79 Jahre Pfrondorf, 88 Jahre Unterjesingen/Ammerbuch-Pfäffingen und 60 Jahre Rottenburg. Das wollte der liebe Gott und wir konnten seine Helfer sein.“ Und, mit dem dem Evangelisten eigenen verschmitzten Lächeln folgte: Man könne jetzt auch wieder Kaffee trinken…
Um 16.30 Uhr (mit akademischer Viertelstunde) gab es einen musikalischen Abschluss im Kirchenschiff, von dem am Ende der Veranstaltung Bischof Kaltschmitt sagte, hätte es den nicht gegeben, hätte absolut etwas gefehlt, und sich dafür bei dessen Initiator, Organisator und Moderator, Andreas Ostheimer, herzlich bedankte. Recht hatte er, der Bischof.
Es wurde eine musikalische Zeitreise von 1849/50 bis in die Neuzeit anhand der Liturgie- und Gesangbücher von damals bis zum zuletzt erschienenen im Jahr 2005. Nach einer langen Zeit wieder ein neues Gesangbuch, das davor stammte aus dem Jahr 1925 (!) erschienen und war damit 80 Jahre lang in Gebrauch gewesen. A. Ostheimer erläuterte die wechselnden Stilrichtungen und wies bezüglich der Gesangbuchausgabe 2005 auf einen lokalpatriotischen Aspekt hin: Lieder darin entstammen einer Tübinger Bibliothek, und zwar einem evangelischen Gesangbuch dort als christliches Allgemeingut mit protestantischen Wurzeln. Es sang unter Einbeziehung des Publikums, teils manches „exotischere“ Lied allein, ein Doppelquartett, der Ansingchor. Das Ganze meist begleitet von der Orgel. Bevor Bischof Kaltschmitt die Schlussworte und ein Gebet als Dank an den Schöpfer für den gelungenen Tag sprach, sangen, zuerst wieder sich abwechselnd und zum Schluss alle gemeinsam das Lied Nr. 258 aus dem neuap. Gb: „Ich singe dir mit Herz und Mund…“ (Paul Gerhardt). Damit schloss sich der Kreis zwischen Beginn und Ende des Jubiläumstags. Es kann auch für den Schluss dieses Berichts und als Ausblick in die kommenden Tage keine schöneren Worte geben als die des Dichters am Ende des Lieds:
„Wohlauf, mein Herze, sing und spring und habe guten Mut!
Dein Gott, der Ursprung aller Ding, ist selbst und bleibt dein Gut.“